olympische Idee

olympische Idee
olỵmpische Idee,
 
ideologische Grundlage der olympischen Bewegung, die sich des Sports, besonders in Gestalt der modernen Olympischen Spiele, bedient, um pädagogische und humanitäre Ziele zu realisieren. Die mit der olympischen Idee und damit dem tieferen Sinn der Olympischen Spiele verbundenen Vorstellungen sind sehr vage. So findet man in der Öffentlichkeit oft die klischeehafte Sichtweise, die olympische Bewegung möchte zwar einen Beitrag zum Aufbau einer besseren und friedlicheren Welt leisten, könne diese Absicht aber aufgrund scheinbar unüberwindbarer Hindernisse nicht realisieren. Selbst in Kreisen der olympischen Bewegung herrscht hinsichtlich der genauen Definition der olympischen Idee Unklarheit, wodurch die Ungewissheit über Ziel und methodische Orientierung dieser Bewegung fortbesteht.
 
Die olympische Idee ist untrennbar mit der Person P. de Coubertins verbunden, der stets vorrangig Pädagoge war. In den Olympischen Spielen sah er weder einen Selbstzweck, noch bestand ihr wichtigster Sinn für ihn im Erbringen großer sportlicher Leistungen. Vielmehr betrachtete Coubertin sie als Mittel zur Verwirklichung seiner pädagogischen Ziele.
 
 Ziele und Werte der olympischen Idee
 
Seinen Anspruch, »Feste (schaffen zu wollen), die alle vier Jahre für die Jugend der ganzen Welt, für den, menschlichen Frühling' veranstaltet werden« und »neben der Entwicklung des Leibes das Werk moralischer Vervollkommnung und sozialer Befriedung weiterführen sollten« (A. Höfer), entlieh Coubertin den antiken Festspielen. Er wollte, dass die vermeintlichen Ideale des Altertums, die sich für ihn in besonderer Weise in den Olympischen Spielen ausdrückten, zu neuen Erziehungszielen der Gegenwart erhoben werden. So verstand Coubertin in diesem Sinne die modernen Spiele ausdrücklich als religiös: »Das Hauptmerkmal des alten wie des neuzeitlichen Olympismus ist, dass er eine Religion darstellt«, eine »religio athletae« (H. Lenk). Für Coubertin war der Sport einerseits »eine Religion mit Kirche, Dogmen, Kult. ..«, andererseits deutete er diesen religösen Charakter um, indem er ihn durch Internationalismus und Demokratie verwandelte und steigerte. Dessen ungeachtet war Coubertin der Meinung, auch das moderne Olympia müsse ein »heiliger Bezirk« sein, - wie im Altertum - »allein dem geweihten, gereinigten Athleten. .. vorbehalten«. Auf diese Weise sei der Sportler »eine Art Priester geworden, indem er die Messe der Muskelreligion hält«.
 
Das zweite Charakteristikum der olympischen Bewegung sah Coubertin darin, »dass er Adel und Elite bedeutet; aber. .. ein Adel, der auf. .. völlig egalitärem Ursprung beruht, denn er wird nur durch die körperliche Überlegenheit des Einzelnen, seine körperlichen Möglichkeiten, die bis zu einem gewissen Maße durch seine Trainingsbereitschaft vervielfacht werden, bestimmt«. Das Prinzip der Auslese ist folglich für Coubertin mit dem Prinzip der Gleichheit verbunden, das jedem, unabhängig von Herkunft, Rasse oder sozialem Stand, gleiche Bedingungen und Bewertungskriterien garantiert. So könne eine sportliche und moralische Elite ermittelt werden, deren tadelloses Auftreten in der Öffentlichkeit jungen Athleten als Vorbild dienen sollte.
 
Das alleinige Erziehen sportlich-technischer Leistungseliten war für Coubertin nicht genug: »Diese Elite muss eine Ritterschaft sein. Ritter sind in erster Linie Waffenbrüder, mutige, energiegeladene Menschen, die nicht nur durch Kameraderie verbunden sind. .., sondern auf ihr liegt beim Ritter noch der Wettkampfgedanke. .. des ritterlichen und doch mit Gewalt geführten Kampfes«. Der Geist des Fairplay und der Ritterlichkeit, die Beachtung der sportlichen Regeln sowie die gegenseitige Achtung der Gegner waren gleichzeitig die einzigen Kriterien, die dem ungehemmten Rekordstreben - ein weiteres Charakteristikum der olympischen Idee Coubertins - eine Grenze setzten.
 
Coubertin vertrat weiterhin die Auffassung, dass Athleten »ungehemmte Freiheit« brauchen, man könne den Sport nicht »zaghaft« oder »maßvoll« ausüben, in der »Freiheit seines Austobens« stecke seine anziehende Kraft und sein Daseinsrecht. Die Unvereinbarkeit der Leistungselite und des Leistungssports allgemein mit Maßhalteappellen drückt sich im Wahlspruch der Olympischen Spiele »citius, altius, fortius« (»schneller, höher, stärker«) aus. Coubertin rechtfertigt zwar einerseits Rekord und Höchstleistung mit ihrer vorbildsetzenden Kraft und damit pädagogischen Wirkung, widerspricht sich andererseits aber, wenn er der Postulierung des Rekordgedankens gegenüberhält, »das Wichtige bei den Olympischen Spielen sei nicht der Sieg, sondern die Teilnahme«. Ebenfalls aus der Antike leitete Coubertin seine Überzeugung von der erzieherischen Wirksamkeit der Olympischen Spiele und der Absicht, Kunst und Geistesleben wesentlich am olympischen Fest zu beteiligen, ab: »Kann man das Fest des menschlichen Frühlings feiern, ohne den Geist einzuladen? Daraus entsteht die wichtige Frage nach dem gegenseitigen Verhältnis von Geist und Körper, das im Sinne einer Zusammenarbeit und Allianz umgestaltet werden muss. Natürlich überwiegt der Geist; die Muskelkraft muss sein Diener bleiben, aber unter der Bedingung, dass es sich um die höchsten Formen künstlerischer oder literarischer Creation handelt. ..«. Auch die moderne olympische Bewegung sollte in den Augen Coubertins ein Erziehungsideal verkörpern und Vorbildfunktion entwickeln. In Anlehnung an die Kalokagathie sollte das Leitbild dabei der »männliche Einzelkämpfer« sein, dessen Streben nach sportlicher Höchstleistung mit dem Bemühen um menschlich-moralische Vollkommenheit einhergeht.
 
Coubertin wollte erreichen, »dass die Zuschauer nur noch die sportliche Leistung applaudieren, völlig losgelöst von nationalen Präferenzen«. Alle nationale Regungen sollten »Burgfrieden halten, oder, wenn man so will, auf Urlaub geschickt werden«. Die Idee des Burgfriedens, ebenfalls ein wichtiger Bestandteil der olympischen Bewegung, ist eng mit der Idee der turnusgemäßen Durchführung der Olympischen Spiele (mit »astronomischer Regelmäßigkeit«) verbunden.
 
Die Aufnahme des Friedensgedankens und des Gedankens der Völkerverständigung als weiteres zentrales Erziehungsziel der modernen olympischen Bewegung bedeutete einen wesentlichen Unterschied zu den antiken Spielen. Während Letztere von einem nicht nur ausgesprochen nationalen, sondern sogar ausgrenzenden Charakter geprägt waren, sollten die modernen Spiele allen Völkern und Nationen offen stehen und diese zusammenführen. Coubertin lehnte nationale Elemente nicht völlig ab; er verknüpfte diese geschickt mit internationalen Elementen zu einem neuen, tragfähigen Konzept. So sollten die Olympischen Spiele keineswegs dem Konkurrenzdenken der Völker und deren Drang nach nationaler Selbstdarstellung entgegenwirken, sondern zu einer Befriedung der natürlichen Auseinandersetzung beitragen. Der sportliche Wettstreit sollte zwar ernsthafter Kampf sein, aber gleichzeitig eine neue Form geregelter und gewaltfreier Konfliktlösung darstellen.
 
Auch wenn Coubertin im »männlichen Einzelkämpfer« den wirklichen olympischen Helden sah, plädierte er keineswegs für den Ausschluss der Mannschaftssportarten. Er griff sogar zu ihrer Rechtfertigung argumentativ auf die Existenz der Altis zurück: »So fasse ich auch den modernen Olympismus auf, dass er nämlich in seiner Mitte eine Art moralische Altis oder Gralsburg hat, wo sich die Wettkämpfer der wirklich männlichen Sportarten treffen, um ihre Kräfte zu messen, nämlich der Sportarten, die der Verteidigung des Menschen dienen und der Herrschaft über sich selbst, über Gefahren. ..: Turner, Läufer, Reiter, Schwimmer, Ruderer, Fechter, Ringer. .. und um sie herum alle anderen Sportarten, die man eben organisieren will. .. ein Fußballturnier u. a. Mannschaftsspiele etc.. .. Sie kommen so auch zu ihrem Recht, aber eben erst an zweiter Stelle«. Außerhalb der Altis sah Coubertin auch den Ort für eventuelle Frauenwettkämpfe, hielt jedoch mit seiner wahren Meinung nicht zurück: »Persönlich halte ich nichts von Frauensport in der Öffentlichkeit, was nicht heißen soll, dass sie nicht in großen Zahlen sich sportlich betätigen sollen, aber eben ohne sich öffentlich zur Schau zu stellen. Bei den Olympischen Spielen sollte ihre Rolle die sein, die sie auch schon bei den antiken Wettkämpfen hatte, nämlich die Sieger zu bekränzen.«
 
 Die Diskrepanz von olympischer Idee und Wirklichkeit
 
Die ehrgeizigen Ziele und hohen Erwartungen Coubertins hinsichtlich der pädagogischen Funktion der Olympischen Spiele haben sich nicht oder nur zum Teil erfüllt. Zwar werden mithilfe der modernen Massenmedien immer mehr Menschen in der gesamten Welt erreicht, aber die zu vermittelnden Ideale traten immer stärker in den Hintergrund beziehungsweise wurden v. a. durch kommerzielle Interessen verdrängt. Ritterlichkeit, Fairness und das Postulat, Teilnahme sei wichtiger als der Sieg, sind angesichts der gesellschaftlichen und damit kommerziell-finanziellen Bedeutung eines Medaillengewinns für den einzelnen Athleten zweitrangig geworden. Dies drückt sich am deutlichsten in der trotz strenger Kontrollen ungebrochenen und das Fairnessideal unterlaufenden Dopingbereitschaft zahlreicher Athleten aus.
 
Die von Coubertin gewollte Verbindung von Sport und Kunst ist heute kaum mehr erkennbar. Das Internationale Olympische Komitee (IOK) beschloss 1949, die olympischen Kunstwettbewerbe abzuschaffen und in Kunstausstellungen umzuwandeln. Argumentiert wurde damit, dass Künstler ihre Tätigkeit als Beruf ausübten und damit im Widerspruch zum olympischen Amateurgesetz handelten. Die Abschaffung der Kunstwettbewerbe steht in krassem Gegensatz zu den ursprünglichen Zielen Coubertins.
 
Bereits in der Anfangszeit der modernen Olympischen Spiele wurden diese in erster Linie als ein weltliches Sportereignis betrachtet. »Eine Religion mit Kirche, Dogmen, Kultus« ist die olympische Bewegung allenfalls für einige Theoretiker und Idealisten gewesen, vielleicht für Coubertin allein. Ein »religiöses Empfinden« dürfte sich bei den Beteiligten selten eingestellt haben. Der heutige spezialisierte Spitzenathlet, für den Training und Wettkampf einen enormen zeitlichen und materiellen Aufwand bedeuten und der in der Regel den Sport als Beruf betrachtet beziehungsweise betrachten muss, wenn er erfolgreich sein will, entspricht keineswegs dem Idealbild einer harmonischen Vollkommenheit aller geistigen, körperlichen und charakterlichen Eigenschaften. Deutlichstes Kennzeichen der Entmythologisierung der Olympischen Spiele ist eine bis ins Absolute gesteigerte Überbewertung der sportlichen Leistung und die damit einhergehenden Begleiterscheinungen wie medizinische Manipulation und Kommerzialisierung.
 
 Amateurismus und Liberalisierung in der olympischen Bewegung
 
Der zeitweise als Schwerpunkt der olympischen Idee angesehene Amateurgedanke zielt darauf ab zu verhindern, dass der Athlet sich durch seine Sporttätigkeit bereichert. Entsprechend der ersten internationalen Amateurdefinition, die für die neu gegründeten Spiele angewendet wurde, war Amateursportler »jeder, der nie in Wettkämpfen gestartet war, die allen offen standen; der nie für einen Geldpreis oder Eintrittsgelder gestritten hatte; der nie besoldeter Lehrer oder Ratgeber für Leibesübungen gewesen war; der keine gewonnenen Preise für Geld verkaufte; der nicht Professional in irgendeinem andern Sport war; der nicht mit Berufssportlern gekämpft hatte«. C. Diem, ein Verfechter der Ideen Coubertins in Deutschland, sah den Zweck des Amateurgesetzes darin, korrekt zwischen Vergnügungsindustrie und Sport zu trennen. Wer die Amateurbestimmung übertrete, sei ein Spielverderber, der durch seine Tat die Idee der Spiele missachte.
 
Die Olympischen Spiele wurden von Beginn an mit dem Amateurproblem so belastet, dass selbst Coubertin den Amateurismus einmal als »ehrwürdige Mumie« bezeichnete, die am besten im Museum aufgehoben sei. Da der Spitzensport zunehmend weniger als Amateursport betrieben werden konnte, kam es zu einem »Schein«-Amateurismus, dessen wohl bekannteste Form der »Staatsamateurismus« der Ostblockstaaten war. Um das internationale Prestige ihres Staates zu steigern, förderten sie ausgewählte Sportler, die - auf verschiedener Weise getarnt - aufhörten, wirkliche Amateure zu sein. Um nicht einseitig eine Reihe Länder von den Spielen ausschließen zu müssen, duldete das IOK diese Verstöße.
 
1971 ließ das IOK den Begriff »Amateur« in seiner Olympischen Charta fallen. Im Oktober 1974 wurde die Regel 26 (der »Amateurparagraph«) liberalisiert und auf der 84. IOK-Session im Rahmen des 11. Olympischen Kongresses in Baden-Baden die Amateurbestimmung letztendlich von unrealistischer Ideologie befreit und pragmatisiert (olympische Zulassungsregel).
 
 Kommerzialisierung und Gigantismus der Olympischen Spiele
 
Bereits die Olympischen Spiele von 1900 und 1904 waren von kommerziellen Einflussversuchen geprägt, da sie an große Messeveranstaltungen angegliedert oder in diese integriert waren. Die Pariser Weltausstellung von 1900 erwähnte die in ihrem Rahmen durchgeführten olympischen Wettkämpfe beiläufig als »internationale Meisterschaften: Läufe zu Fuß und athletische Amateurwettbewerbe, ausgerichtet von der Union französischer Athletikgesellschaften« (Lenk). Die negativen Erfahrungen mit einer derartigen Organisation der Olympischen Spiele veranlassten Coubertin zu der Feststellung, die Spiele dürften nie wieder »an jene großen Jahrmärkte« angehängt werden. Nach der Konsolidierung der Olympischen Spiele schien ihre wirtschaftliche Abhängigkeit zunächst überwunden. Allerdings hat sich heute eine neue Form der finanziellen Abhängigkeit entwickelt: Die Olympischen Spiele sind hinsichtlich Aufwand, Ausgaben und Organisation so gigantisch geworden, dass nur noch Städte in reichen Nationen mit ihrer Durchführung betraut werden können. Allein die Bewerbung um die Olympischen Spiele bedeutet heute Kosten von etwa 80 Mio. DM (für die Münchner Bewerbung 1972: rd. 500 000 DM). Darüber hinaus sind sowohl die Spiele als auch das IOK selbst in eine finanzielle Abhängigkeit von den Fernseheinnahmen aus den Olympiaübertragungen geraten. So unterlagen die Olympischen Winterspiele von Calgary 1988 erstmals dem Diktat des Fernsehens (NBC-Rechte für 309 Mio. Dollar), und seit den Sommerspielen von Seoul 1988 wird in Kauf genommen, dass die Fernsehanstalten und Sponsoren, die die Fernsehübertragungen der Wettkämpfe zur Werbung nutzen, das Geschehen bestimmen. Dies hat z. B. zur Folge, dass Wettkämpfe zu physiologisch ungünstigen Zeiten stattfinden, weil nur so die besten Einschaltquoten für Fernsehdirektübertragungen erzielt werden können. Die olympische Bewegung hat sich zu einem großen Wirtschaftsunternehmen entwickelt. Die bereits von Coubertin aufgeworfene Frage »Markt oder Tempel« scheint längst entschieden, und aus dem Wettstreit der Nationen ist teilweise ein Wettstreit der Konzerne geworden, »eine kalkulierte Show mit hoch spezialisierten Akteuren, eine Inszenierung für und durch die Medien« (H. Bausinger).
 
 Olympische Internationalisierung
 
An den heutigen Olympischen Spielen nehmen mehr Nationen teil als je zuvor (199 in Sydney 2000 gegenüber z. B. 169 in Barcelona 1992, 159 in Seoul 1988 und 140 in Los Angeles 1984), was quantitativ für die Internationalität der Olympischen Spiele spricht. Allerdings werden die Olympischen Spiele - obwohl in der Olympischen Charta als Wettkämpfe zwischen Individuen und nicht zwischen Ländern angelegt - in der Öffentlichkeit als ein »Nationenwettkampf« angesehen. Dies wird vom IOK dahingehend unterstützt, dass es Einzelmeldungen teilnahmewilliger Sportler nicht akzeptiert, sondern nur von den Nationalen Olympischen Komitees (NOK) aufgestellte Nationalmannschaften. Zudem werden die Sieger mit der Flagge und Hymne ihrer Nation geehrt.
 
 Politisierung und Boykottierung der Olympischen Spiele
 
Der Einfluss der Politik auf die olympische Bewegung setzte der Verwirklichung der olympischen Idee von Beginn an Grenzen. Bereits Coubertin stellte in seinen Erinnerungen fest, dass sich die Spiele sehr schnell zu »eine[r] Angelegenheit des Staats« (Höfer) entwickelten. Dadurch wurde v. a. die friedenserzieherische Funktion der Spiele erheblich beeinträchtigt. Besonders deutlich wurde dies in der Zeit der beiden Weltkriege, als die Spiele ausfielen (1916, 1940, 1944). Dies zeigte, dass Frieden nicht durch Olympische Spiele entsteht, sondern dass die Spiele selbst ein Produkt des Friedens und stets abhängig von den politischen Umständen sind. Die Olympischen Spiele 1936 in Berlin wurden sehr geschickt für politische Zwecke missbraucht, besonders in der Absicht, die aggressiven innen- und außenpolitischen Pläne des nationalsozialistischen Staates zu verschleiern.
 
Nach 1945 bestimmte die Konfrontation der politischen Blöcke die olympische Realität: Die DDR wurde von den Sommerspielen 1952 in Helsinki ausgeschlossen, weil sie ein Zusammengehen mit dem NOK für Deutschland abgelehnt hatte. - Die gewaltsame Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands im November 1956 sowie der etwa zeitgleiche Suezkrieg führten 1956 zum ersten olympischen Boykott; die arabischen Staaten sowie die Niederlande, Spanien und die Schweiz sagten ihre Teilnahme an den Olympischen Spielen in Melbourne ab. China fehlte, weil Taiwan teilnahm. - Südafrika wurde aufgrund seiner Rassenpolitik von den Olympischen Spielen 1964 in Tokio ausgeschlossen. - Die Spiele in Mexiko standen 1968 nicht nur unter dem Eindruck des andauernden Vietnamkriegs, sondern wurden auch mit der Niederschlagung des »Prager Frühlings« durch Truppen des Warschauer Pakts im August sowie durch das gewalttätige Vorgehen mexikanischer Ordnungskräfte gegen friedliche Studentendemonstrationen wenige Tage vor der Eröffnungsfeier in Mexiko beeinflusst. Erstmals wurden in Mexiko City auch die Olympischen Spiele selbst für eine politische Demonstration genutzt: Die farbigen US-Sportler Tommie Smith und John Carlos, die die Gold- und Bronzemedaille im 200-m-Lauf gewannen, demonstrierten während der Siegerehrung gegen die Rassendiskriminierung und für die Black-Power-Bewegung in den USA. - 1972 schloss das IOK Rhodesien auf Druck von zwölf afrikanischen Staaten von den Spielen in München aus. Bei diesen Spielen wurden im olympischen Dorf in der Folge eines palästinensischen Terrorangriffs auf die israelische Mannschaft ein Trainer, zehn als Geiseln genommene Sportler, ein Polizist und fünf Terroristen erschossen. - Vor Beginn der Olympischen Spiele in Montreal 1976 reisten Afrikas Sportler wieder ab, weil das IOK ihrer Forderung nach Ausschluss Neuseelands nicht nachkam (Neuseeland hatte zuvor das Sportembargo gegen Südafrika verletzt). Kanadas Staatspräsident zwang aus politischen Rücksichten auf China die Mannschaft Taiwans zur Abreise. - Zur größten Krise der olympischen Bewegung der Neuzeit kam es anlässlich der Olympischen Spiele 1980 in Moskau: Wegen des Einmarschs sowjetischer Truppen in Afghanistan 1979 boykottierten 30 Staaten (darunter die USA und die Bundesrepublik Deutschland) die Spiele in Moskau. - 1984 erfolgte ein Gegenboykott der Olympischen Spiele in Los Angeles durch die Ostblockstaaten (u. a. DDR, UdSSR und Kuba). - Die Olympischen Spiele 1988 in Seoul wurden von Nord-Korea boykottiert. - Erst die Olympischen Spiele 1992 in Barcelona, 1996 in Atlanta und 2000 in Sydney waren wieder boykottfrei.
 
Die olympische Bewegung ist also in hohem Maße von den jeweiligen politischen und gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen abhängig. Insofern kann es keine zeitlos gültige Idee mit unveränderbaren Werten und Zielen geben, und die Vorstellungen Coubertins können nicht als absolute Richtschnur für die Gegenwart dienen. Durch die Öffnung für Berufssportler, die immer aufwendigere Gestaltung, den steigenden Medieneinfluss und die zunehmende Kommerzialisierung haben die Olympischen Spiele ihren Charakter verändert. Die olympische Idee als ursprünglich sinnstiftender Ziel- und Wertekomplex hat mit der äußeren Entwicklung der Spiele nur mühsam Schritt gehalten.
 
 Die Zukunft der olympischen Idee
 
Die Vielfalt der olympischen Idee lässt unterschiedlichste Interpretationen und Realisierungsmöglichkeiten zu. Bestimmte, zum Teil kritisierte Entwicklungen des Hochleistungssports sind bereits in ihren Zielen und Werten angelegt. So steht das von Coubertin hervorgehobene Rekordstreben nicht nur im Gegensatz zum Postulat »Dabeisein ist alles«, sondern ist letztendlich nur schwerlich mit dem Amateurgedanken oder - angesichts der heute mit sportlichem Erfolg verbundenen materiellen Gewinne - der Forderung nach Fairness und Ritterlichkeit vereinbar. Andererseits wird argumentiert, dass gerade die Vieldeutigkeit der olympischen Idee bisher zum Überleben der olympischen Bewegung beigetragen hat. Tatsache ist, dass 1) die Ausrichtung von Training und Wettkampf auf einen relativ engen Spezialbereich, in dem dann Höchstleistungen möglich sind, nicht mehr rückgängig zu machen ist, 2) Höchstleistungen, die ganz im Sinne der olympischen Idee sind, angesichts der heutigen Leistungsdichte und Konkurrenz nur noch von Berufssportlern zu erbringen sind, 3) die mit olympischen Höchstleistungen verbundenen Profite aufseiten des Athleten den Versuch nahe legen können, auf unfaire Weise in den Genuss eben dieser Profite zu kommen, 4) die Vermarktung der Olympischen Spiele ihre Durchführbarkeit im gegenwärtigen Ausmaß erst ermöglicht, 5) die Vergrößerung der Spiele ins Gigantische v. a. daher rührt, dass - ganz im Sinne der olympischen Idee - immer mehr Nationen den Zugang zu olympischen Sportarten und damit auch zu den Olympischen Spielen gefunden haben, 6) der Charakter der Spiele als Medienereignis erst erlaubt, dass der den Spielen bereits von Anfang an zugesprochenen globalen Dimension auch entsprochen wird.
 
Obwohl die Olympischen Spiele politische Auseinandersetzungen und Kriege nicht verhindern können und ihre Wandlung hin zum kommerziellen Spektakel kritisch zu beurteilen ist, obwohl Fairness der Athleten nicht immer vorausgesetzt werden kann, besteht doch kein Zweifel daran, dass sie einen Beitrag zu Frieden und Völkerverständigung leisten. Vielleicht ist der Friedensgedanke in Zukunft sogar das entscheidende Merkmal der Olympischen Spiele, wodurch sie sich von »besseren Weltmeisterschaften«, für deren Austragung keine außersportlichen Gründe sprechen, unterscheiden.
 
Trotz vieler Unzulänglichkeiten ist der olympische Sport Ausdruck und Symbol für die besonderen pädagogischen, sozialen und kulturellen Möglichkeiten des Sports an sich. Die Chancen und Möglichkeiten, sich als Person weiterzuentwickeln und insofern mit den eigenen sportlichen Leistungen zu wachsen, sind im olympischen Sport - wenn auch unter erschwerten Bedingungen - erhalten geblieben.
 
 
P. de Coubertin: Der olymp. Gedanke. Reden u. Aufsätze (Neuausg. 1967);
 C. Diem: Der olymp. Gedanke. Reden u. Aufsätze (1967);
 H. Lenk: Werte, Ziele, Wirklichkeit der modernen Olymp. Spiele (21972);
 A. Höfer: Der olymp. Friede. Anspruch u. Wirklichkeit einer Idee (1994);
 
Olymp. Spiele. Die andere Utopie der Moderne. Olympia zw. Kult u. Droge, hg. v. G. Gebauer (1996);
 
Auf der Suche nach der o. I. Facetten der Forschung von Athen bis Atlanta, hg. v. Norbert Müller u. a. (1996);
 
Olymp. Sport. Rückblick u. Perspektiven, hg. v. O. Grupe (1997).

Universal-Lexikon. 2012.

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